Ein ganzes Leben in 9 Wochen

Im Frühjahr wurde ich zu einem 92-jährigen schwerhörigen und bettlägerigen Herrn gerufen.
Auf einem Ohr taub erschwerte die Maskenpflicht zusätzlich die Kommunikation.

Schnell fanden wir aber unsere eigene Sprache durch Augenkontakt und Handzeichen, gleichwohl es vor allem darum ging, ihm zuzuhören. Sein Gesprächsbedarf war groß.
Ich hörte spannende Geschichten über die vielen Reisen, die er machte und über sein größtes Hobby, das Malen. Wir sangen gemeinsam Lieder, die er mit seinem Männerchor, dem er viele Jahre angehörte, gesungen hat. Er erzählte sowohl von seinen beruflichen als auch privaten Erlebnissen und Schicksalsschlägen, seinen 5 Kindern und seiner Frau, „seiner Liebe", mit der er über 65 Ehejahre teilte, bevor er sie vor wenigen Jahren verlor.

Wir haben geweint, aber auch sehr viel gelacht. Wir haben diskutiert über Kirche, Glaube, Corona und und und. Dass das alles auch nahezu nonverbal ging, hat mich beeindruckt.
Den größten Vertrauensbeweis zeigte er mir gegenüber, als ich sein Tagebuch lesen durfte, was er in den letzten Wochen verfasst hatte. Für seinen Redebedarf bot ich ihm mein Ohr, half ihm dabei sein Leben zu resümieren. Was ich dafür zurück bekam ist kaum in Worte zu fassen. Ich fühlte mich genauso gesehen und gehört. So sagte er zu mir: „Denken Sie nicht so viel nach, sonst können Sie nicht gut schlafen."

Nach dem vorletzten Besuch bei ihm wünschte er mir zum Abschied alles Gute und sagte „Sie sind eine starke Frau, passen Sie gut auf sich auf".
Als ich das nächste Mal wiederkam war der Herr nicht mehr ansprechbar, ich habe ihm die Lieder vorgespielt, die wir zusammen gesungen haben: Bei Gott nur ist Liebe... Alles Gute auch für Sie!

(Text: A.Wichmann)

#lebensgeschichte #nonverbal #abschied #trost #ehrenamt #hospiz